Sing to me- Identitätsmosaik Teil 1

(TW- Beschreibung sexualisierter Übergriffe )

Hinter vernarbten Schichten Panzerhaut wohnt, in einem mit Sprüngen übersäten Seelenglas:

Dieses Gefühl.

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In einem wachen neugierigen bücherverschlingenden Kind.

Ein Mädchen dann, Zuschreibungen inklusive. Eines, das sich wohl fühlt in seinem verläßlichen Körper mit dem es auf Bäume klettern und lange rennen kann ohne aus der Puste zu kommen. Das schüchtern ist und dann an „falscher Stelle“ den Mund aufreißt. Dem die Erwachsenen schon früh erzählen, wie „naseweis“ es wäre oder dass das was es gerade als seine Wahrheit ausgesprochen hat „sich nicht gehören würde laut zu sagen“. Das mit anderen Kindern im Urlaub eine Bande gründet und Geheimtreffen abhält. Ronja, die rote Zora und Zwiebelchen mit seinem revolutionären Gemüsefreund_Innen immer an seiner Seite.

Irgendwann ist es kein Kind mehr, aber die Erwachsenensachen sind auch nur verstörend. Wenn es Erwachsensein ist, bittere braune Brühe zu trinken, stinkige Zigaretten zu rauchen oder seltsame Witze zu machen, die es nicht versteht und alle Großen lachen komisch…dann können sie ihr Erwachsensein behalten.

Sich immer öfter gegen Ungeheuer(liches) verwehren müssen. Der ältere Junge, der ihm Kaugummi und einen kleinen Anhänger schenkt und sagt, wie hübsch es wäre. Der SowasWieEinOnkel, der ein Foto schickt, auf dem es 13jährig bei einer Familienfeier auf einem Stuhl im Garten sitzt. Auf die Rückseite schreibt er “ ein Bild auf dem man sieht, was (      ) für schöne Beine hat“. Der Vater, der von den „weiblichen Formen“ redet, die es langsam bekommen würde und „zickig“ nennt als es sagt, wie unangenehm ihm diese Aussagen sind. Der alte Mann im Schwimmbad, der sich im Wasser anfasst und dabei herübersieht. Der Mann mit den behaarten Unterarmen, die er in der Straßenbahn links und rechts plaziert und sich an es presst. Es schluckt schwer an all dem Ekel, der Angst und dem Gefühl von Ausgeliefert-Sein in solchen Augenblicken. Schlimmer noch, weil es für die Erwachsenen manchmal keine besondere Sache zu sein scheint.

Wie all das aber trotzdem nicht den Hunger nach Leben, nach Verstehen und Erfahren stoppen kann.

Die alten „Das Magazin“ Hefte der Eltern…und die grauweiß-gestreifte Schlafanzugshose, die feucht wird. Vergleiche der Frauen auf den Bildern, die schön sind, mit dem eigenen Körper. Sich fragen, was da noch kommt. Unsichergefärbte Vorfreude und dieses warmen Ziehen im Unterleib. Abende vorm Radio, in der umarmenden Dunkelheit Hände, die sich manchmal nicht mehr wie die eigenen anfühlen. Salt’n’Pepa singen über Sex. Aufregung in Melodie gegossen.

Mit 11 das erste Mal verliebt sein. In einen Jungen drei Klassen höher. Die Erwachsenen feiern das. Den Freundinnen legt es erzählenderweise jede kleine Begegnung auf dem Schulhof in die Hände wie besonders zerbrechliche Schätze.

Es ist kühler Mai als es das nächste Mal verliebt ist. Dieses Mal kann es niemandem davon erzählen. Das spürt es. Sie ist eine Freundin der Mutter, großgewachsen und hat braune Augen. Ihre Haare leuchten in der Nachmittagssonne. Sie ist lustig und als sie einmal zufällig sein Knie streifend sagt: “ Oh, ich dachte, du hättest eine Strumpfhose an, so braun wie deine Beine jetzt schon sind“ glaubt es den Moment entlang in etwas wunderbar Strudelig-Heißes zu versinken. Eine wieder und wieder nachcolorierte Erinnerung, die es lange Monate vorholt während es sich beim Betrachten wegsehnt.

Mit 16 küsst es auf einer Party zum ersten Mal ein anderes Mädchen. Sie hören dabei Billy and the Willies. Der Song „She’s nice“ landet auf dem Mixtape und ist konserviertes Herzklopfen, weiche Haut überall. Das blauweiß-karierte Taschentuch, das nach dem anderen Mädchen riecht, wochenlang in der Jackentasche festhaltend. Völlig hingerissen von dem anderen Mädchen mit seinen kurzen bunten Haaren, wie es immer in einem grünen Parka versinkt und Sonic Youth liebt.

Die erste gay-Party besucht es mit zitternden Beinen und trockenem Hals. Es tanzt die ganze Nacht, verträgt den Alkohol nicht und wird irgendwann auf der Tanzfläche von einer älteren Frau hart auf den Mund geküsst. Beschämt sein und flüchten ist eins. Am nächsten Tag wird ein Freund die Nummer der blonden butch mitbringen, die die ganze Zeit mitreißend rübergelacht hat. Es wird sich nicht trauen, anzurufen.

Kurz darauf muss es vom Gymnasium abgehen, zuviel Fehlzeiten und „schlechte Leistungen“ im Verbund. Die Direktorin wird beim Abschlussgespräch sagen dass es „ohnehin nie hierher gepasst hätte“. An der neuen Schule gibt es keine Punks, aber dieses Metal-Mädchen in rot-schwarz-karierten Flanellhemden und Lederhosen. Das Metal-Mädchen mit seinen witzigen Comics, in denen es die kaputten Erwachsenen zeichnet, die dröge Schule und was es bedeutet, Außenseiterin zu sein. Bald darauf entdeckt das Metal-Mädchen Batcave und sie können Stunde um Stunde in dem Zimmer des Metal-Mädchens sitzen, süßen Wein trinken und über Musik reden. Sie schreiben abwechselnd Geschichten zusammen und lesen sich ihre Gedichte vor. Sie werden das Punk/Gothic-Duo in der Schule. Bis an die Zähne bewaffnet mit ihrem Anderssein und ihrer gegenseitigen Zuneigung setzen sie sich hinweg über alle dummen Sprüche, vor allem von der Gruppe Nazijungs, die vor der Schule warten. Einmal sogar handgreiflich werden. Das Metal-Mädchen ist nun Goth, in langen Samtkleidern und Pikes. Sie lieben sich nicht nur wie Schwestern, aber das merken sie erst als sie mit anderen zusammen sind. Sich schon großflächig verletzt haben und sich nur noch in ein Dazwischen trauen, in dem sie heimlich auf Toiletten oder in Ecken weit weg von den Anderen ineinander verschlungen die Welt auf Zweisamkeit reduzieren.

Dann der Beginn der Eiszeit, in der es fast stirbt.

Schwerst verwundet durch die sadistische Gewalt einer Person, die vorgibt zu lieben, friert es sich im Körper ein und kommt lange nicht mehr irgendwo an.

Es ist jetzt auf der Flucht.

Nur noch im Vergessen zuhause, dem einzigen Ort, wo nichts schmerzen kann…

On The Other Side

Jeden Tag ein kleines Innehalten. Derer erinnern, die nicht mehr sind. Oft fehlen. Große klaffende Lücken hinterlassen haben. Tot, nur noch mehr bleiches Gebein. Irgendwo tief unten in der Erde. Wenn überhaupt noch etwas übrig ist. Nicht schon längst wieder dem Kreislauf von Vergehen und Entstehen zugeführt. Entsprechend verwertet. Für neues Leben. Irgendwann.

Der Tod ist ein seltsamer Vogel. Ich hatte schon als Kind riesigen Respekt vor ihm. Ich bin manchmal panisch wegen hm hochgeschreckt, enggehüllt in blasslila wunderbar-weichem Flanell in dem Bett meines toten Großvaters liegend und meiner Großmutter und ihren Geschichten lauschte.

Ich habe mir dann vorgestellt, was ich alles nie mehr würde tun können. Mit der alten lauten Straßenbahn fahren, im Zug sitzend das DraußenvormFenster bestaunen, bei Gewitter sicher und geborgen drinnen sitzen, mit meinen Freund*innen spielen. Das machte mich traurig und dann, einige Augenbliche später ganz und gar glücklich…denn ich lebte ja. Jajaja! Die Chancen standen zudem gut, am nächsten Morgen wieder aufzuwachen…und doch fand ich gerade Schlafen befremdlich. Weil ich mir in etwa so das Sterben vorstellte.

Ich verstand nicht, warum ich ausruhen muss, die Augen schließen und jedesmal Zeit verlieren. Wo ich doch, putzmunter und immer neugierig, soviel besser hätte nutzen können. Heißen Kakao trinken zum Beispiel oder mich durchkitzeln lassen bis der Bauch vom Lachen wehtut. Ich bekam erklärt, dass der Schlaf wie eine extra Decke zu verstehen sei, die mich zuverlässig zudeckt, mich wärmt und so neue Kraft schöpfen lässt. Um am nächsten Morgen wieder bereit für neue Abenteuer zu sein.

Heute ist Halloween…Samhain, wie alte Weisen nur mehr flüstern. Ein uraltes Fest. Der Glaube, dass heute Nacht der Schleier zwischen dem Dies- und Jensseits am dünnsten ist…nur ein hauchzartes Atmen, das kräftige Schlagen unserer Herzen, das uns von der anderen Welt trennt. Kerzen im Fenster, damit die Toten den Weg nach Hause finden.

Ich denke vor allem an dich, babcia A.-D. Weil du dem kleinen Wusel niemals Kakao kochen können oder ihm über das Haar streichen wirst. Weil es nie einer deiner Geschichten zuhören können wird, von dir mit tiefer wohlklingender Stimme vorgetragen.Weil du nie über seinen aufgeschlagenen Knien singen oder ihm die Welt der Spinnen erklären wirst und warum das Schlafen wirklich wichtig für kleine Abenteuer*innen ist…weil du all das nicht mehr machen kannst, mache ich es für dich.

Heute und wann immer sonst du besonders fehlen wirst.

BITTE BEACHTEN: (#CN für #SVV #SUIZID im Video ) !!!